In der Klausur, in der mündlichen Prüfung, in der Hausarbeit, im Vermerk oder im Rechtsgespräch verlangen der Bearbeitervermerk oder die Aufgabenstellung in weit überwiegender Häufigkeit – insbesondere in der Zeit der Ausbildung – die Erstellung eines Rechtsgutachtens.
Manche meinen, dieses läge daran, dass das Gutachten dem Regelfall der juristischen Arbeit in der Praxis entspräche – Tatsache ist, dass jedenfalls die gutachterliche Arbeitsweise, also das offene, problembewusste und strukturierte Lösen von Rechtsfragen in der Praxis nützlich ist. Ist ein Gutachten anzufertigen, so kann man sich vorstellen, dass dieses einem rechtlichen Laien, der nur den Sachverhalt kennt und die einschlägigen Gesetzestexte zur Hand hat, die juristischen Probleme des Falles aufzeigt und ihm überzeugend erklärt, aus welchem Grund sie wie gelöst werden. Der Gutachtenstil soll folglich dazu dienen, Personen von dem gefundenen Ergebnis zu überzeugen, die in der Regel nur wenige rechtliche Vorkenntnisse aufweisen.
Der Gutachtenstil zeichnet sich dadurch aus, den Weg von der (im Bearbeitervermerk) aufgeworfenen Frage bis zur Antwort zu begleiten und nicht sogleich mit einem Ergebnis zu beginnen. Im Grunde bildet er den Gedankengang des Prüflings nach. Ist in einer Klausur etwa ein zivilrechtlicher Anspruch des K auf Übergabe und Übereignung einer Kaufsache gegen V zu untersuchen, so gibt das Gutachten darauf erst am Ende der Begutachtung die Antwort darauf, nie schon am Anfang oder mittendrin: K hat einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung gem. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB gegen V.
Zuvor gilt es, Schritt für Schritt zu überlegen, ob denn die einzelnen Voraussetzungen für einen solchen Anspruch gegeben sind, also ob beispielsweise ein Kaufvertrag zustande gekommen ist, also ob sich die Parteien geeinigt haben, indem sie Angebot und Annahme wirksam erklärten.
Bei sämtlichen Gutachten wird der Gutachtenstil in derselben Art und Weise angewandt, wobei die folgenden vier Schritte in dieser Reihenfolge abzuarbeiten sind:
• Einleitungssatz (auch: Voraussetzungssatz),
• Definition,
• Subsumtion und
• Schlusssatz (auch Ergebnissatz).
Hierüber steht – allerdings für jeden Anspruch genau einmal – der Obersatz.
Der Obersatz ist die erste Hypothese die aufgestellt wird und durch welche die Prüfung des jeweiligen Anspruchs eingeleitet wird. Der Satz (keine Frage!) sucht durch das Aufstellen einer Vermutung die Frage: „Wer will was von wem woraus?“ zu beantworten.
Im Obersatz müssen sich somit mindestens die beteiligten Parteien, das Ziel des Anspruchs und einschlägigen Vorschriften wiederfinden.
K könnte einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung (der Kaufsache) gem. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB gegen V haben.
V könnte einen Anspruch auf Abnahme (der Kaufsache) und Kaufpreiszahlung i.H.v. 100,00 Euro gem. § 433 Abs. 2 BGB gegen K haben.
E könnte einen Anspruch auf Herausgabe (der Sache) gem. § 985 BGB gegen B haben.
Der erste Schritt besteht darin, sich in einem Einleitungssatz zu vergegenwärtigen, was im Folgenden zu prüfen ist, beispielsweise, welche Anspruchsgrundlage oder welches konkrete Tatbestandsmerkmal untersucht wird.
Die einführenden Worte des Einleitungs- oder Voraussetzungssatzes dienen nicht nur der eigenen Orientierung, sondern vor allem der Orientierung des Korrektors. Der Einleitungssatz darf deshalb nicht zu epischer Breite anwachsen, weil er in das Gutachten lediglich einführt, ohne es in der Sache selbst maßgeblich voranzubringen. Es ist vielmehr eine kurze und prägnante Formulierung mit hoher Informationsdichte geboten. Der Satz ist Spiegelbild für den Ergebnissatz und kann die Aufgabe des gedanklichen Leitens noch besser übernehmen, wenn die Position des Tatbestandsmerkmals durch ein entsprechendes Einleitungswort herausgestellt wird. So bietet es sich an den ersten Einleitungssatz mit „zunächst“ zu beginnen, darauffolgende mit „weiterhin, außerdem, darüberhinaus“ und den letzten Einleitungssatz in der jeweiligen Gliederungsebene mit „letztlich“ oder „schließlich“ einzuleiten.
Aufmerksamkeit ist bei der Wahl von „könnte“ und „müsste“ geboten, der Bedeutungsunterschied der Worte sollte sich vergegenwärtigt werden.
V könnte eine Willenserklärung abgegeben haben.
Zunächst müssten sich die Parteien geeinigt haben.
Zuerst müsste der haftungsbegründende Tatbestand erfüllt sein.
Weiterhin müsste K mit Erklärungsbewusstsein gehandelt haben.
Außerdem müsste S die Pflichtverletzung im Sinne des § 276 BGB zu vertreten haben.
Darüber hinaus müsste der haftungsausfüllende Tatbestand erfüllt sein.
Letztlich müsste ein Schaden vorliegen.
In der Definition wird der im Einleitungssatz aufgeworfene Gesichtspunkt rechtlich näher betrachtet, indem definitionsbedürftige Rechtsbegriffe „erklärt“ werden.
Nähere Erörterungen sind nur angebracht, wenn sie für den konkreten Fall von Bedeutung sind, sich also mit rechtlicher Relevanz subsumieren lassen. Die sich dem Prüfling in der Definition bietende Möglichkeit, Kenntnisse unter Beweis zu stellen, darf eben nicht als Einladung verstanden werden, das gesamte Wissen ohne Rücksicht auf seine Relevanz für den zu behandelnden Sachverhalt niederzuschreiben.
Besteht rechtlicher Erklärungsbedarf, darf nicht vorausgesetzt werden, der Korrektor wisse schon, was und wie es ein Prüfling meint. Im Gutachten – und damit in der Prüfungsleistung – geht es nicht darum, was der Korrektor weiß; vielmehr hat allein ein Prüfling seine Kenntnisse unter Beweis zu stellen. Steckt also in einer Definition ein weiterer Rechtsbegriff, der definitions- und erklärungswürdig und in der Folge auch subsumstionsfähig erscheint, so kann auf die Definition durchaus ein weiterer Voraussetzungssatz folgen, frei nach dem Motto:
Voraussetzung: A könnte ein Angebot gemacht haben.
Definition: Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die einem anderen einen Vertragsschluss so anträgt, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dessen Zustimmung abhängt.
Voraussetzung: Es müsste mithin überhaupt eine Willenserklärung vorliegen.
Definition: Eine Willenserklärungbezeichnet die Entäußerung eines Willens, der auf die Herbeiführung einer privatrechtlichen Rechtsfolge gerichtet ist; sie besteht aus einem äußeren und einem inneren Tatbestand.*
In der Formulierung muss zum Ausdruck kommen, dass alle Erläuterungen in der Definition abstrakt sind und nicht nur im vorliegenden Sachverhalt, sondern generell Gültigkeit beanspruchen. Mithin ist nicht mehr auf den Konjunktiv des Einleitungssatzes zurückzugreifen. Vielmehr stehen Begriffsbestimmungen und sonstige Ausführungen in der Definition im Indikativ.
* äußerer und innerer Tatbestand werden auch (meist synonym) als objektiver und subjektiver Tatbestand bezeichnet.
Ein Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die einem anderen einen Vertragsschluss so anträgt, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dessen Zustimmung abhängt.
Eine Willenserklärung bezeichnet die Entäußerung eines Willens, der auf die Herbeiführung einer privatrechtlichen Rechtsfolge gerichtet ist; sie besteht aus einem äußeren und einem inneren Tatbestand.
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.
Anspruch ist das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen.
Ein Irrtum bezeichnet im Anfechtungsrecht das Auseinanderfallen von objektiv Erklärtem und subjektiv Gewolltem.
Die Subsumtion besteht genaugenommen aus zwei Teilen, weswegen sehr genaue Menschen auch behaupten könnten, bei dem gutachterlichen „4-Schritt“ handele es sich eigentlich um einen „5-Schritt“. Ganz unrichtig ist dieses nicht.
Ob die in der Definition näher erläuterten Voraussetzungen und Merkmale im vorliegenden Sachverhalt gegeben sind, wird im Rahmen der Subsumtion geprüft. Eindrucksvoll heißt es auf Wikipedia hierzu:
Die Subsumtion (von lat. sub, unter, und sumere, nehmen, Partizip II sumptum, gelegentlich Subsumption geschrieben) ist der Vorgang, bei dem man einen Begriff unter einen anderen ordnet. In der Rechtswissenschaft wird der Begriff als Anwendung einer Rechtsnorm auf einen Lebenssachverhalt („Fall“), das heißt als Unterordnung des Sachverhaltes unter die Voraussetzungen der Norm, verstanden.
Es gilt also, einen konkreten Sachverhalt unter eine abstrakte Norm oder ein allgemeingültiges Tatbestandsmerkmal zu fassen, welches zuvor durch eine Definition konkretisiert bzw. spezifisch ausgestaltet worden ist. Die Subsumtion erfolgt im Indikativ. Da der vorliegende Einzelfall rechtlich zu bewerten ist, empfiehlt es sich, nahe am Sachverhalt zu arbeiten und diesen zunächst wiederzugeben. Es sind nur solche Fakten, die für den gerade erörterten Aspektwichtig sind, in das ausformulierte Gutachten zu übernehmen.
Hiernach folgt die rechtliche Würdigung (Subsumtion zweiter Teil). Der rechtlichen Würdigung geht idealerweise ein kurzer Moment des Nachdenkens voraus. Es wird beurteilt, ob der gerade wiedergegebene Sachverhalt die Merkmale der Definition (welche ja die Rechtsnorm konkretisiert) erfüllt – oder nicht. Im zweiten Satz der Subsumtion, also nach der Sachverhaltswiedergabe kann dieses niedergeschrieben werden. Entweder, indem man das Vorliegen der Definition verneint oder bejaht.
Hier hat B mit Nein geantwortet. (Sachverhaltswiedergabe)
Somit hat er sein unbedingtes Einverständnis mit dem angetragenen Vertragsschluss nicht erklärt. (rechtliche Würdigung)
Vorliegend hat T den Y gefragt, ob er sein Handy für 420,00 Euro kaufen wolle.
Damit hat T einem anderen den Vertragsschluss so angetragen, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dessen Zustimmung abhängt.
Laut Sachverhalt musste Y 1.000,00 Euro Behandlungskosten bezahlen.
Mithin hat Y eine unfreiwillige Vermögenseinbuße i.H.v. 1000,00 Euro erlitten.
Nach der umfassenden und würdigenden Formulierung von Definition und Subsumtion, stellt der vierte und letzte Schritt im sog. „4-Schritt“ eine eher schnell zu erledigende Aufgabe dar.
Der Schlusssatz, auch oft Ergebnissatz genannt, verkündet das gefundene rechtliche Ergebnis zusammenfassend unter direkter Bezugnahme auf die Formulierung im Einleitungssatz (auch: Voraussetzungssatz). Im Schlusssatz wird somit die im Einleitungssatz aufgeworfene Frage beantwortet, indem die beinahe gleiche Formulierung gewählt wird wie dort – selbstverständlich ohne dieses Mal den Konjunktiv zu verwenden.
Folglich liegt ein Angebot vor.
Mithin ist die Willenserklärung zugegangen.
Folglich haben sich A und B geeinigt.
Ein Werkvertrag ist zustande gekommen.
Das Gesamtergebnis schließt die Begutachtung des Anspruches ab und beantwortet die Frage des Obersatzes; in aller Regel also die Frage danach, ob jemand einen Anspruch auf etwas hat, weil ebendieser entstanden, nicht untergegangen und durchsetzbar ist.
K hat einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung der Kaufsache gem. § 433 Abs. 1 S. 1 BGB gegen V.
E hat einen Anspruch auf Herausgabe der Gesetzessammlung gem. § 985 BGB gegen B.
Zunächst könnte hier in dem Veröffentlichen des Preises und der Artikelbeschreibung des Gerätes auf der Webseite ein Angebot zu sehen sein. Ein Angebot ist die empfangsbedürfte Willenserklärung, die einem anderen den Vertragsschluss so anträgt, dass das Zustandekommen des Vertrages nur noch von dessen Zustimmung abhängt. Es müsste mithin eine Willenserklärung vorliegen. Diese ist die Äußerung eines Willens, welcher auf die Herbeiführung einer privatrechtlichen Rechtsfolge gerichtet ist, sie besteht aus einem äußeren und inneren Tatbestand. Fraglich ist hier, ob der äußere Tatbestand der Willenserklärung vorliegt. Dieser liegt vor, wenn für einen Dritten erkennbar ist, dass eine Erklärung mit Rechtsfolgewillen abgegeben werden sollte. Hier ist ein Artikel zum Verkauf auf einer Internetseite dargestellt worden. Damit stellt es sich für einen Dritten gerade nicht so dar, als sei ein Rechtsfolgewillen gewollt gewesen, Adressatenanzahl und konkrete Geschäftspartner sind nicht bestimmt oder bestimmbar; Folge wäre, dass gegenüber jedem Annahmeerklärenden geleistet werden müsste, was nicht gewollt sein kann. Damit liegt der äußere Tatbestand der Willenserklärung nicht vor, folglich liegt keine Willenserklärung vor. In dem Ausstellen des Gerätes auf der Webseite ist kein Angebot zu erblicken.